Die Frauen der Alemannen

Wer waren die Alemanninnen? Heroische Kämpferinnen oder Heimchen am Herd?

Mit diesem Aufsatz versuche ich die heutigen Klischees und ihre Entstehungsgeschichte zu hinterfragen und eine etwas andere Betrachtungsweise über die germanischen Frauen und ihre Bedeutung in der damaligen Gesellschaft aufzuzeigen. Dabei orientiere ich mich hauptsächlich an den Thesen von Hans Schumacher.

Ich bin mir bewusst, dass ich möglicherweise mit meinem Aufsatz provoziere, aber das geschieht mit Absicht. Ebenso absichtlich sind die klischeegetränkten Abbildungen gewählt.

 

 

 

Werfen wir zunächst einen Blick auf eine der wichtigsten Quellen, wenn es um die Beschreibung der germanischen Gesellschaft geht und der wir weitgehend die heutigen Ansichten über die Germanen verdanken.

Die Rede ist vom Senator und Historiker Publius Cornelius Tacitus, geboren um 58 n. Chr. und gestorben um 117 n. Chr.

Tacitus, was eigentlich – welch Ironie - wörtlich 'der Schweigsame' bedeutet, galt als einer der bedeutendsten Redner seiner Zeit.

In seinem Werk 'Germania', das er irgendwann zwischen 98 und 106 n. Chr. verfasste und veröffentlichte, beschreibt der Schriftsteller den Ursprung und die Gesellschaft der Germanen sowie deren geographische Einordnung.

 

 

 

 In den uns überlieferten Schriften findet sich kein einheitlicher Titel. Erstens: De origine et situ Germanorum, 'über Ursprung und geographische Lage der Germanen', zweitens: De origine et moribus Germanorum, 'über Ursprung und Gebräuche der Germanen'. Da keiner der beiden Titel über jeden Zweifel erhaben ist, hat man Tacitus Schrift den Arbeitstitel Germania gegeben, wie sie auch im Folgenden benannt wird.

1. Seite aus der 'Germania'.

In der vorliegenden Ausgabe erstmals im Jahr 1529 erschienen. Herausgeber war der aus Württemberg gebürtige Nürnberger Theologe Andreas Althamer (1498–1564).

 

 

 

 

 

 

 

 


Zuverlässige Quelle?

Der Römer Tacitus, der sich der Maxime 'sine ira et studio' (ohne Zorn und Eifer) – also einer objektiven Berichterstattung verschrieben hatte, ist vermutlich nie selbst in Germanien gewesen und kannte daher die dortigen Verhältnisse nicht aus eigener Anschauung. Trotzdem wird seiner Schrift auch heute noch, selbst unter Wissenschaftlern, ernsthaft attestiert, eine antike Ethnographie über die Germanen zu sein.

Dazu muss man wissen, dass die Römer Geschichte als etwas ihnen selbst eigenes empfanden, während sie die Barbaren grundsätzlich als geschichtslos einstuften. Rom kannte auch keine Partner, oder Gleichrangigen. Für sie gab es nur die bereits Unterworfenen und die noch zu Unterwerfenden. Römische Beschreibungen anderer Kulturen und Gesellschaften sind grundsätzlich
Feindbeschreibungen und dienen überwiegend Propagandazwecken. Sei es, um die eigenen Taten glorreicher erscheinen zu lassen, das meist militärische Intervenieren zu rechtfertigen, oder – wie in Tacitus Germania - eine gesellschaftliche Moralpredigt zu halten.


Römische Moralvorstellungen

Scharfzüngig und Wortgewandt beschrieb der Gesellschaftskritiker Tacitus die zeitgenössisch römischen Zustände als sittenlos und dekadent und versuchte dies anhand von bewusst ausgewählten Ausschnitten aus der Geschichte zu belegen. Gerade mit der 'Germania' und seinen darin zur Tugendhaftigkeit idealisierten Barbaren, vermochte er seinen Landsleuten das Gegenbild einer nicht korrupten und dekadenten Gesellschaft vor Augen zu halten. Aber warum ausgerechnet die Germanen?

Bevor ich dieser Frage nachgehe, möchte ich zunächst einen Blick auf die römischen Frauen werfen, die ja von den allermeisten gesellschaftlichen Prozessen ausgeschlossen waren. Dieser ist nur insofern relevant, als die sozialen Gegebenheiten in Rom den Hintergrund für die Betrachtungen des Tacitus bezüglich germanischer Frauen bildeten. Ein kurzes Zitat aus den Annalen des Tacitus: "Im gleichen Jahr versuchte man, durch strenge Senatsbeschlüsse das ausschweifende Leben der Frauen zu steuern[...]." Tacitus gesamtes Werk ist voll von „Sittenlosigkeit" und "Lasterhaftigkeit", von Frauen, gegen deren Verderbtheit, wie man sieht, sogar der Senat mit aller Ernsthaftigkeit auf den Plan treten musste.


Ausschweifendes Mal; Fresko aus der Stadt Herculaneum

Bei der Erforschung der germanischen Frauen und ihrer gesellschaftlichen Rolle, stoßen wir unweigerlich auf ein schwerwiegendes Problem: Tacitus gehörte einer völlig anderen Kultur an. Einer Kultur, die sehr stark dazu neigte, ihre eigenen essentiellen Vorstellungen und Ziele auf andere Kulturen zu projizieren und blind dafür zu sein, dass es andere Lebens- und Moralvorstellungen überhaupt geben konnte.


Römische Ethnografie

Wie sehr Tacitus von Rom und seiner Wertewelt als Massstab aller Dinge durchdrungen war, möchte ich anhand seiner Betrachtungen über die Germanenstämme erläutern.

Zu den verbündeten Ubiern merkt er an, dass ihnen "ihre Verdienste die Stellung einer römischen Kolonie eingebracht habe und sie sich lieber nach der Gründerin ihrer Stadt als Agrippinenser bezeichnen." (Colonia Claudia Ara Agrippinensium = Köln.)

Zu den Batavern, deren Aufstand 70 n. Chr. durch Qintus Petilius Cerialis niedergeschlagen wurde, meint er: "Von allen diesen Stämmen sind die Bataver am tapfersten [...] Ursprünglich ein Zweig der Chatten, zogen sie wegen inneren Zwistes in die jetzigen Wohnsitze [...] Die Ehre und Auszeichnung alter Bundesgenossenschaft hat bis heute bestand; (erinnern Sie sich, wann Tacitus die Germania schrieb?) denn kein Zins demütigt sie, und kein Steuerpächter presst sie aus. Frei von Lasten und Abgaben und (jetzt kommt der Verwendungszweck) einzig Kampfzwecken vorbehalten, werden sie wie Wehr und Waffen für Kriege aufgespart." (Vorwiegend gegen noch freie Germanenstämme)

Die Chatten: "Für Germanen zeigen sie viel Umsicht und Geschick: sie stellen Männer ihrer Wahl an die Spitze, gehorchen den Vorgesetzten, und kennen Reih und Glied. (Generell scheinen Germanen etwas ungeschickt, tumb und disziplinlos gewesen zu
sein.) [...]und was überaus selten und sonst allein römischer Kriegszucht möglich ist: sie geben mehr auf die Führung als auf das Heer."

Die von der Landwirtschaft lebenden Germanen beschreibt er so: "[...] und nicht so leicht könnte man einen Germanen dazu bringen, das Feld zu bestellen und die Ernte abzuwarten, als den Feind herauszufordern und sich Wunden zu holen; es gilt sogar für träge und schlaff, sich mit Schweißzu erarbeiten, was man mit Blut erringen kann."

Zum Hausbau der Germanen meint er: "Jeder umgibt sein Haus mit freiem Raum, sei es zum Schutz gegen Feuersgefahr, sei es aus Unkenntnis im Bauen. Nicht einmal Bruchsteine oder Ziegel sind bei ihnen im Gebrauch; zu allem verwenden sie unbehauenes Holz, ohne auf ein gefälliges oder freundliches Aussehen zu achten."

Durch und durch ein ehrlicher Römer: "[...] Denn die verbündeten Nachbarstämme hatten die Brukterer geschlagen und gänzlich ausgerottet [...] weil die Götter uns eine Gunst erzeigten; denn sie gewährten uns sogar das Schauspiel der Schlacht. Über Sechzigtausend sind dort gefallen,nicht durch römische Wehr und Waffen, sondern, was noch erhebender ist, ganz zu unserer Augenweide."

Haben Sie auch genug der 'sine ira et studio' Beispiele römischer Ethnografie? Trotzdem werden wir uns immer wieder mit den römischen Autoren auseinandersetzen müssen, weil sie die einzigen sind, die überhaupt Anhaltspunkte zur damaligen germanischen Welt liefern. Die Archäologie kann uns hier, im Vergleich zur Schriftlichkeit, nur ergänzend in der Beweisführung behilflich sein.

Wie weitgehend die erwähnten römischen Moralvorstellungen und ihre Haltung gegenüber den Frauen Einfluss auf die christliche Religion und damit auf die spätere abendländische Wert- und Moralvorstellung hatte und immer noch hat, zeigt sich auch am Beispiel der Interpretation der Moorleiche von Windeby. Man scheute sich in den 1950er Jahren nicht, der Leiche die Finger zurechtzubiegen, damit sie die  „Feige“, das angebliche Zeichen für Ehebrecherinnen machte. Dann wurde – ganz nach taciteischem Muster – behauptet; als Strafe für ihre Treulosigkeit sei die sündige Germanin mit verbundenen Augen ins Moor gejagt worden!

So hieß es noch bis vor wenigen Jahren. Dank besserer Untersuchungsmethoden weiss man inzwischen, dass die Frau ein Junge und die Geschichte Unfug ist.

Abbildung: Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum Schloss Gottorf.

 

 

Warum die Germanen?


Die Frage, warum Tacitus gerade die Germanen als moralische Vorbilder erwählte und nicht ein anderes Volk, ist berechtigt. Die Antwort liegt in der zentralen Frage, die man sich damals im Imperium Romanum stellte: Warum besiegte man die Germanen nicht?

Schlacht zwischen Römern und Germanen, aus einem Gemälde von Friedrich Tüshaus.

Wenden wir uns kurz den militärischen Erfolgen Roms gegen die Germanen, seit der Zeit des Zweiten Punischen Krieges zu, von denen Tacitus folgendes zu berichten weiss: "Sie haben Carbo und Cassius und Scaurus Aurelius und Servilius Caepio und Maximus Mallius geschlagen oder gefangengenommen und so zugleich dem römischen Volk fünf konsularische Heere entrissen, ja sogar dem Kaiser Augustus den Varus und mit ihm drei Legionen [...] man hat über sie Siege in jüngster Zeit mehr gefeiert als wirklich errungen."

Tatsächlich war Rom sonst nirgendwo auf annähernd so grosse Schwierigkeiten gestossen, wie sie die Germanen verursachten. Ausgerechnet die Germanen, von denen man genau wusste, dass sie eigentlich ein Konglomerat im Grunde lächerlich kleiner Stämme waren, die sich zudem nicht selten gegenseitig bekämpften.

Die Art, wie der Krieg gegen die Germanen tatsächlich geführt wurde schildert Tacitus in den "Annalen":  "Germanicus übergibt nun vier Legionen, 5000 Mann bundesgenössische Truppen und eilig aufgebotene Truppen linksrheinischer Germanen dem Caecina. Ebenso viele Legionen und die doppelte Anzahl bundesgenössischer Truppen befehligt er selbst und führt eiligst das schlagfertige
Heer ins Chattenland“.

Wohlgemerkt, beim Unterfangen der 8 Legionen und den 15'000 Mann Bundesgenossen geht es um einen Überfall auf einen einzelnen Stamm.

Während Caecina verhindern soll, dass die Chatten Verstärkung erhalten, führt Germanicus persönlich das glorreiche Unternehmen mit 20 000 gepanzerten, schwerbewaffneten Berufssoldaten und 10 000 Mann bundesgenössischer Truppen an! Tacitus brauchte seinen Lesern nicht zu sagen, dass einst acht Legionen (plus Bundesgenossen) das größte Heer gewesen war, das Rom je aufgeboten hatte, und zwar gegen den Punier Hannibal, als dieser Rom bedrohte. Jetzt setzte man acht Legionen ein, um einen Barbarenstamm zu überfallen und andere Barbaren daran zu hindern, den Überfallenen zu helfen!

Vor eben diesem kulturellen, sozialen und militärischen Hintergrund schrieb Tacitus sein Buch über die Germanen. Auf die Frage, warum man die Germanen nicht besiegte, gab er seinen Landsleuten und Zeitgenossen eine klare Antwort: „Weil die Germanen
jene Eigenschaften haben, die Rom einst zur Grösse verhalfen, die Rom aber verloren hat.“ Auch wenn es sich um eine reine Projektion handelte, so sollte seine Aussage noch  weitreichende Folgen haben!


Die Alemanninnen und die Ehe


Es wäre verfehlt, davon auszugehen, dass sämtliche Germanenstämme identische soziokulturelle Rahmenbedingungen und Ausprägungen aufwiesen. Daher kann im Idealfall nur von einer Annäherung gesprochen werden, wenn ich hier versuche, etwas
über Alemanninnen und damit auch über Germaninnen auszusagen. Dabei werden wir uns wiederum an vorhandenen Quellen orientieren müssen und dabei sehr schnell an die Grenzen der Wahrheitsfindung stossen.

Sowohl Tacitus wie auch Julius Cäsar beschreiben, dass es in Adelskreisen vorkam, dass einige Germanen mit mehreren Frauen verheiratet waren. So vermerkt Gaius Julis Cäsar  in seiner Schrift: De bello Gallico, dass Ariovist, der Anführer der Sueben, bei der Schlacht nahe dem heutigen Mülhausen seine beiden Frauen verloren habe.

Wurden durch mehrfache Heirat Bündnisse unter Stämmen besiegelt?

Gab es dafür eine soziale Notwendigkeit?

War Polygamie Statussymbol und damit ein Machtbeweis?

Ersteres scheint insofern wahrscheinlich, als Vermählungen zur Festigung eines Bündnisses noch lange Tradition haben würden. So versuchte noch Kaiser Franz I. von Österreich das etwas strapazierte Französisch-Österreichische Bündnis durch die Heirat seiner Tochter Marie-Luise mit Napoleon Bonaparte zu festigen.

Eine soziale Notwendigkeit könnte z.B. darin bestanden haben, als ein Mann, wie in verschiedenen Kulturkreisen üblich, dazu verpflichtet war, beim Ableben seines Bruders dessen Frau zu übernehmen - so wie Josef die (nicht von ihm) schwangere Maria ehelichte. Dagegen würden jedoch die Bestimmungen der Lex Alamannorum sprechen.

Ziehen wir Polygamie als Statussymbol in Betracht, so finden wir bei Tacitus - mit unverkennbar moralisierendem Unterton - folgenden Hinweis: „Denn fast allein unter allen Barbaren begnügen sie sich mit einer einzigen Ehefrau, mit seltenen
Ausnahmen, in welchen aber nicht Begierden, sondern Standespflichten mehrere Ehen wünschenswert machen.“

Waren Frauen überhaupt an ‚Ehebeschlüssen’ beteiligt, oder wechselten sie einfach den Besitzer, also vom Vater zum Gatten? Nach römischen Recht war die unverheiratete  Frau der Gewalt des Vaters unterstellt und als Ehefrau, Kraft der patria potestas,
derjenigen des Mannes. Folgt man Tacitus Ausführungen, werden diese Rechtsnorm und römisches Denken offenbar bedenkenlos auf die germanische Gesellschaft übertragen.

Zitat: „Nach all dem steht an der Spitze des einzelnen Hauses der germanische Freie. Frau, Kinder und alle weiteren Hausangehörigen sind seiner Hausgewalt unterworfen.“

Demnach fiele die Frau mit der Eheschließung in diese Munt* (sogenannte Muntehe).
 

 

*Vermutlich vom germ. ‚mundo’/munduz’, das sprachlich mit dem lat. manus, (Hand; im juristischen Sinne von ‚in die Hand/Gewalt gegeben’) zusammenhängen könnte und noch in der heutigen Vormundschaft aufscheint.

Treu bis in den Tod

„Trotz der freizügigen Bekleidung“, so hält der sittenstrenge Tacitus seinen zügellosen römischen Mitbürgern vor, „halten sie strenge Ehezucht und keinen anderen Teil ihrer Sittenkann man mehr loben […] Darum beachten sie streng die Schranken keuscher Sitte, durch keinerlei Schaustel­lungen verlockt, durch keine Gastmähler gereizt und verführt. Geheimer Briefwechsel ist beiden Geschlechtern unbekannt. (bei einer weitgehend  schriftlosen Kultur nicht weiter verwunderlich) Äußerst selten ist in einem so großen Volk der Ehebruch. Ihm folgt die dem Mann überlassene Strafe sofort: mit abgeschnittenen Haaren, nackt jagt der beleidigte Mann sie in Gegenwart der Verwandten aus dem Haus und treibt sie mit Schlägen durch das ganze Dorf.“ Eine weitere Gelegenheit für den Politiker Tacitus, seinen Landsleuten aufzuzeigen, dass die germanischen Männer ihre Frauen noch selbst züchtigten und zum Rechten sahen, während – wir erinnern uns – in Rom der Senat gegen sittenlose Frauen vorgehen musste.

Tacitus berichtet weiter über die Ehe: „Die Hausfrau kommt als Genossin der Mühen und Gefahren, die im Frieden wie im Kriege dasselbe dulden und wagen soll. So soll sie leben, so sterben. Was sie empfangen hat, muss sie unentweiht und in Ehren ihren Söhnen hinterlassen, die es wieder auf die Schwiegertochter und durch sie auf die Enkel übertragen. Achtung vor solchen Völkern, wo nur Jungfrauen heiraten und wo es mit der Hoffnung und dem Gelübde der Ehefrau ein für allemal abgetan ist. So erhalten sie den Gatten, gleichsam wie ein Leib und Leben und weiter gibt es keinen Gedanken, keine Gelüste, da sie in Wahrheit die Ehe, nicht den Mann lieben.“

Auch hier finden wir die taciteischen Idealbilder wieder. Er zeichnet ein modellhaftes Gesellschaftsideal, in welchem sich die Frauen mit Haut und Haaren – nicht dem Manne - sondern treu der Institution Ehe verschreiben und sich Männer mit nur einer Frau ‚begnügen’. Wie edel!


Formen der Ehe

Weder bei Tacitus noch bei Caesar finden wir Hinweise auf die Formen der Ehe. Spätere Quellen, sie entstammen dem späten 8. und dem 9. Jahrhundert und sind bereits durch die Christianisierung und damit stark durch römische Einflüsse gefärbt. Sie beschreiben die im frühmittelalterlichen Europa gebräuchlichen Eheformen. Zum einen die bereits erwähnte Muntehe, bei der die Frau von einem Schutzverhältnis - ihrer Sippe - in ein anderes - das des Bräutigams, wechselte. Die Höhe des zu zahlenden Muntschatzes war in den Stammesrechten festgelegt und löste die früheren Natrualgaben ab: "Die gesetzmäßige Ehegabe besteht aus 40 Schillingen, entweder in Gold oder in Silber.“ Die hohe Summe lässt darauf schließen, dass es damals nur für die Oberschicht ein geregeltes Eheverhältnis gab. Später wandelte sich der Muntschatz in eine Art Witwenversicherung. Das Geld gehörte der Frau und diente als Rücklage für den Fall, dass der Mann starb.

Frühere Ehe- oder Brautgaben, die für die germanische Bauernkrieger-Gesellschaft glaubhaft erscheinen, schildert einmal mehr Tacitus: „Eine Mitgift bringt nicht die Frau dem Mann, sondern der Mann der Frau […] welche nicht weiblichen Wünschen entsprechen, sondern Rinder, ein aufgezäumtes Ross oder ein starker Speer mit Schwert und Schild sind. Gegen solche Gaben wird die Frau entgegengenommen und sie selbst bringt auch dem Mann einige Waffen mit. Dies halten sie für das festeste Band, das heiligste Geheimnis und darüber walten die Götter des häuslichen Herdes.“

 

 

 

"Urgermanische Krieger“

Neben der Muntehe, gab es die Friedelehe (deren Existenz jedoch umstritten ist). Diese hatte einen weniger bindenden und für die Braut weniger absichernden Charakter. Die Friedelehe hatte keine standesrechtlichen Folgen und durfte neben der Muntehe existieren. Sie konnte jedoch in eine Muntehe umgewandelt werden.

Noch weniger verbindlich war die "Kebsehe", die keinerlei Formalitäten bedurfte. Die Kebsehe bestand zwischen einem Freien und einer Unfreien. Das Wort "Kebse" bedeutet Sklavin oder Dienerin. (Vergleiche auch König Chilperich und Fredegunde; von der Kebse zur Königin.)


Alemannische Hochzeit

Wie und wann wurde eine Trauungszeremonie durchgeführt? In Ermangelung weiterer historischer Quellen, wenden wir uns den Nordgermanen und ihren Lieder und Sagen zu, da dieser Kulturkreis in seiner ursprünglich heidnischen Form noch bis ins 10. Jahrhundert fortbestand und zumindest eine Verwandtschaft in den Ritualen mit den übrigen Germanen vermutet werden kann.
Gestützt auf schriftliche Quellen, könnte eine Hochzeitszeremonie folgendermassen ausgesehen haben: Zuerst wurde der Zeremonienplatz geweiht. Braut und Bräutigam wurden von ihren Sippen zum Zeremonienplatz begleitet. Als erstes wurde die Brautgabe überreicht (Mitgift bringt nicht das Weib dem Manne, sondern der Mann dem Weibe). Braut und Bräutigam traten in zwei aus Stroh gebildete Kreise, die entzündet wurden (im Feuer als Reinigungsritual liegt auch die Hexenverbrennung begründet).
Während die Sippenmitglieder und Gastsippen einen grossen Kreis um das Brautpaar bildeten, vollzog sich - beginnend mit der rituellen Beschwörung der Gottheiten für Fruchtbarkeit und Ehebund - unter einem Eschenbogen die eigentliche Trauungszeremonie.
Götter und Ahnen wurden angerufen und zur Teilnahme an der Hochzeitsfeier gebeten. Danach folgt die zeremonielle Opferung von Tieren, die am anschliessenden Festmahl verspiesen wurden. Nach dem Abschluss des Trauungsrituals kam der “brudh-laup” - der Brautlauf, bei dem der Mann die Frau symbolisch einfangen musste.“
Ein Wortlaut oder eine Ritualformel bezüglich des religiösen Teils der Trauungszeremonie ist uns nicht überliefert. Als Beispiel für den Treueschwur der Brautleute mag uns ein Lied aus der Edda dienen. Der Bräutigam sagte: "Das schwöre ich, dass ich dich zum Weibe haben will; du bist nach meinem Herzen." Worauf die Braut: "Dich will ich am liebsten haben und könnt ich unter allen Männern wählen.“ Diese Stelle mag verdeutlichen, dass nicht nur aus wirtschaftlichem Kalkül und sonstigen Interessen geheiratet wurde, sondern auch aus Liebe. Es sagt uns ferner auch, dass die Frau unter all den Männern ihre (freie) Wahl getroffen hatte.


So oder ähnlich könnte auch ein alemannisches Hochzeitsmahl ausgesehen haben
(Illustration aus „Germanic Warrior“ von A. McBride)

Sexualität

Die Keuschheit von Frauen in Rom war genau genommen totale Kontrolle der weiblichen Sexualität durch die Männer. Der Moralist Tacitus war gar nicht in der Lage, sich die Verhältnisse zwischen Männern und Frauen bei den Germanen anders vorzustellen. Er gab sich daher alle erdenkliche Mühe, die dortigen Zustände so "altrömisch" auszumalen wie nur möglich.

Aber hören wir  uns Tacitus zur „germanischen Sexualität" an: "Spät beginnt beim jungen Manne der Liebesgenuss, und so ist die Zeugungskraft ungeschwächt. Auch mit den Mädchen eilt man nicht; ebenso groß ist die Jugendfrische, ähnlich der hohe Wuchs: den Männern gleich an Alter und Stärke treten sie in die Ehe ein, und die Kraft der Eltern kehrt in den Kindern wieder." Eine Sitte, spät zu heiraten, bedeutet für Frauen jedenfalls, dass sie als erwachsene Menschen heiraten und nicht als halbe Kinder, was ihre Eigenständigkeit innerhalb der Ehe nur unterstreichen kann.

Julius Caesar, der die Gefährlichkeit der Germanen hervorhob, um seine Kriegszüge zu rechtfertigen, beschrieb sie folgendermassen: "Ihr ganzes Leben besteht aus Jagen und militärischen Übungen […] Diejenigen unter ihnen, die am spätesten
mannbar werden, genießen unter ihnen das höchste Lob […] Es zählt bei ihnen zu der höchsten Schande, schon vor dem 20. Lebensjahr mit einer Frau verkehrt zu haben. Hierbei gibt es keine Heimlichkeit, denn beide Geschlechter baden zusammen in den Flüssen und tragen nur Felle und dürftige Pelzüberwürfe, wobei der größte Teil des Körpers nackt bleibt."

Die römische Vorstellung eines Zusammenhangs männlicher physischer Gesundheit und Stärke mit sexueller Abstinenz ist ausgezeichnet belegt und wird mitsamt der damaligen medizinischen Diskussion ausführlich von Foucault besprochen. Es handelt sich also keineswegs um blosse Klischees, die Caesar und Tacitus wiedergaben, oder denen sie aufsassen, sondern um die Wissenschaftlichkeit ihrer Zeit.

Das gemeinsame Baden, nackt oder halbnackt, spricht für ein sexuelles Selbstverständnis beider Geschlechter und keineswegs für prüde Moralvorstellungen. Gab es doch auch „hierbei“ keine Heimlichkeiten.


Magische Frauen?

"Die Germanen glauben sogar, den Frauen wohne etwas Heiliges und Seherisches (etiam sanctum aliquid et providum) inne;
deshalb achten sie auf ihren Rat und hören auf ihren Bescheid. Wir haben es ja zu Zeiten des verewigten Vespasian erlebt, wie Veleda bei vielen als göttliches Wesen galt. Doch schon vor Zeiten haben sie Albruna und mehrere andere Frauen verehrt, aber nicht aus Unterwürfigkeit oder als ob sie erst Göttinnen aus ihnen machen (nec tamquam facerent deas) müssten."
So ist es uns von Tacitus überliefert.

 

 

 

Seherinnen, wie  sie ein Künstler sah.

Ein Beispiel der Sehergabe (providum) dieser Frauen entnehmen wir aus Julius Caesars „De bello Gallico“, 150 Jahre vor Tacitus. Julius Caesar hatte gerade erfolgreich die Konfrontation mit dem in Gallien eingedrungenen Großverband der Sueben gesucht, als folgendes geschah: "Nachdem es auf beiden Seiten viele Verwundete gegeben hatte, führte Ariovist bei Sonnenuntergang seine Truppen ins Lager zurück.“ Als Caesar von Gefangenen wissen wollte, warum Ariovist sich nicht auf eine Entscheidungsschlacht einließe, erfuhr er folgendes: „Bei den Germanen sei es Brauch, dass die Familienmütter mit Runen und Weissagungen bestimmten, wann es richtig sei, eine Schlacht zu schlagen und wann nicht. Sie hätten erklärt, die Götter seien gegen einen Sieg der Germanen, wenn sie vor dem folgenden Neumond eine Schlacht lieferten."



Heimkehr von der Schlacht

Nun stellt sich die Frage, wer waren diese Familienmütter? Wir wissen es nicht. Was wir wissen ist, dass es offensichtlich üblich war, dass diese Frauen bestimmten, ob und wann eine Schlacht geschlagen wurde, was ihren enormen Einfluss auf die von Männern durchgeführten militärischen Operationen beweist. Es stellt sich weiter die Frage, mit welchem Wissen diese Frauen die Situation taktisch richtig einschätzten? Dazu muss man wissen, dass sich Caesar tatsächlich in einer misslichen Lage befand. Einerseits hatte er sich viele gallische Feinde und damit eine unsichere Lage in seinem Rücken geschaffen, weiter plagten ihn logistische Schwierigkeiten, aber vor allem brauchte er den militärischen Erfolg, um auch politisch bestehen zu können. Jeder Tag, an dem es den Sueben gelang, Caesar hinzuhalten, verschlechterte dessen Lage. Das zu beurteilen brauchte es weder Runen noch Götter, aber zweifelsfrei ein hervorragendes Wissen.

Caesar konnte keinesfalls bis zum Neumond warten! Die Zeit drängte! So zwang er den Sueben die Entscheidungsschlacht auf und siegte.

Die Kompetenz der Germaninnen in Kriegsangelegenheiten stehen im klaren Widerspruch zu den „bevormundeten“ und fügsamen Ehefrauen, wie sie uns Tacitus zu schildern versucht. Um das Bild der souverän denkenden und leitenden Frauen zu vervollständigen, habe ich den beiden Schilderungen noch ein weiteres Beispiel angefügt.

Runenstein

 

 

 

Nero Claudius Drusus (*38 v. Chr. +9 v. Chr.) war Statthalter der gallischen Provinzen und Oberbefehlshaber an der Rheingrenze. Im Frühjahr 12 eröffnete er eine Reihe von Feldzügen zur Eroberung Germaniens. Erstmals gelangte unter ihm im Jahre 9 v. Chr. ein römisches Heer an die Elbe, dem Stammesgebiet der Cherusker. Dort begegnete er der Legende nach einer Seherin (Wizaga), welche ihn vom weiteren Vormarsch abhielt und ihm den nahen Tod prophezeite. Auf dem Rückweg stürzte Claudius Drusus vom Pferd und erlag wenig später seinen Verletzungen.


Münze mit dem Portrait desNero Claudius Drusus Germanicus

Veleda spielte eine wichtige Rolle beim Bataveraufstand 69  n. Chr. " Diese war eine Jungfrau aus dem Stamm der Brukterer, die weithin Macht besass […] denn sie hatte den Germanen Erfolg und die Vernichtung der Legionen vorhergesagt.“ Veleda gelangte letztlich in Gefangenschaft, denn 77 n. Chr. wird sie in einem Gedicht des römischen Dichters Papinius Statius als Gefangene erwähnt.

Ihre Deportation erfolgte nach Süditalien in die Stadt Ardea, wie ein griechisches Spottgedicht belegt: (Veleda) „die die Rheinwassertrinker verehren.“

Ganna, aus dem Stamm der Semnonen, dürfte ebenfalls beträchtlichen politischen Einfluss gehabt haben, da sie am Ende des 1. Jh.s im Gefolge des Semnonenkönigs Masyas nach Rom kam, wo ihr selbst „der römische Kaiser Domitian Respekt erwies.“
Durch die römische Geschichtsschreibung sind uns noch weitere Namen von germanischen Seherinnen überliefert, zum Beispiel Aurinia und Gambara aus dem Stamm der Langobarden. Waluburga, die Seherin der Semnonen wird im 2. Jh. auf einer römischen Soldliste von der ägyptischen Insel Elephantine erwähnt.

Nicht unerwähnt lassen möchte ich die Alamannische Wahrsagerin und Prophetin Thiota, die um das Jahr 848 im deutschen Südwesten predigte und grossen Eindruck hinterliess.


Die Frau in der Rechtsprechung

Vielleicht verhilft uns da ein Blick in das im ersten Drittel des 7. Jahrhunderts entstandene Gesetzeswerk „Pactus legis Alamannorum“, um zu einem besseren Verständnis der Frauen in der damaligen Gesellschaft zu gelangen, fasst doch dieses Buch angeblich das von alters her überkommenen Verständnis der alemannischen Stammesrechte zusammen. Der Pactus legis Alamannorum steht jedoch klar im  Kontext zur römisch beeinflussten Rechtsprechung im Frankenreich, weshalb auch hier ein soziokultureller Wertewandel erwatet werden darf, zumal einzelne Passagen auch das Kirchengut betreffen.


Die rund hundert Jahre nach dem "Pactus Alamannorum", zwischen 712 und 730 n. Chr. entstandene „Lex Alamannorum“ im sog.Wandalgar-Codex. Stiftsbibliothek St. Gallen.

Trotzdem möchte ich mich einzelnen Textpassagen des Pactus legis Alamannorum zuwenden, soweit diese Frauen betreffen.

Pactus, legis Alamannorum, Artikel 2:

§ 7.

Wenn einer eine freie Frau mit einem Schlag schlägt, so dass kein Blut heraustritt, zahle er zwei Schillinge.

§ 8.

Wenn es eine Halbfreie war, [zahle man] einen Schilling und eine Tremisse.

§ 9.

Wenn es eine Magd war, zahle man einen Schilling

§ 10.

Wenn es ein Mann war, ebenso

§ 11.

Wenn es ein Knecht war, einen halben Schilling.

 

Diese heute unter dem Begriff der Tätlichkeit erscheinende Rechtsnorm zeigt, dass ein tätlicher Übergriff auf eine Frau, gleich welchen Standes, doppelt so schwer bestraft wurde, als wenn ein Mann betroffen war. Daraus eine besondere Stellung der Alemannin in der Gesellschaft herzuleiten ist gewagt. Darin dürfte eher deren besondere Schutzwürdigkeit als soziales

Normenverständnis zum Ausdruck kommen.

Merowingischer Triens (Tremisse ) aus Gold 1,2g. Der Wert entspricht einem Drittel eines Solidus (Schilling) Die Höhe der Strafe war nicht unerheblich.

 

 

 

 

 

 

Pactus, legis Alamannorum, Artikel 34:

§ 1.

Wenn ein dem Gatten gegebenes Weib ohne irgendwelche Nachkommenschaft stirbt, sind alle ihre Sachen an die Verwandten zurück zu geben, was immer nach dem Gesetz zufällt.

§ 2.

Und wenn sie den Gatten überlebt, sollen alle Bettsachen ihr zugestanden werden.

§ 3.

Wenn sie sich freiwillig scheiden wollen, sollen sie nehmen, was jedem nach dem Gesetze zufällt. Die Bettsachen sollen sie gleich teilen.

 

Ich möchte nicht näher auf den hier behandelten Teil des Erbrechts eintreten, sondern gleich auf den interessanten Inhalt von § 3. Zu sprechen kommen. Der Text zeigt klar auf, dass sich zu diesem Zeitpunkt ein Ehepaar von Gesetzes wegen problemlos scheiden lassen konnte. Voraussetzung war lediglich die Freiwilligkeit und eine güterrechtliche Trennung in gegenseitiger Übereinkunft – 'nehmen was jedem nach dem Gesetz zufällt'.

Pactus, legis Alamannorum, Artikel 35:

§ 1.

Wenn ein Gatte seine Ehefrau entlässt, büsse er selbst 40 Schillinge und habe kraft seiner Vormundschaft keine Macht (mehr) und gebe ihr alles zurück, was ihr nach dem Gesetz zufällt.

 

Der Paragraph 1 des Artikels 35 beantwortet uns unter anderem die Frage nach den weiter oben beschriebenen Formen der Ehe – es handelt sich offensichtlich um eine Muntehe. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass bei dem während der Regierungszeit König Chlothars verabschiedeten Gesetz 33 Herzöge, 33 Bischöfe und 45 Grafen mitwirkten. Der fränkische Adel und der Klerus als
Gesetzgeber dürften bei der Schaffung des Pactus legis Alamannorum insbesondere an die in ihren Kreisen übliche Form der Eheschliessung gedacht haben, die es zu regeln galt. Es kam ihnen gar nicht in den Sinn, andere Formen der Ehe per Gesetz
normieren zu wollen, zumal sich diese ohnehin – oder gerade deswegen - ausserhalb der schützenden Gesetzes- und Gesellschaftsnormen bewegten.


Antworten oder Fragen?

Wie also war nun die Stellung der Alemanninnen in der damaligen Gesellschaft? Ich muss Ihnen diese Antwort schuldig bleiben. Das liegt daran, dass wir - genauso wie Tacitus – aus einer völlig anderen Kultur stammen und dass sich unsere Wertmassstäbe nicht auf die germanische Kultur vor 1500 Jahren umlegen lassen, selbst wenn sie unsere Vorfahren sind.

Wenn ich Sie liebe Leserinnen und Leser mit diesem Beitrag, der vielleicht mehr Fragen aufwirft als beantwortet, selbst zum kritischen Hinterfragen der Geschichte und Geschichten über das frühe Mittelalter und die Stellung der Frauen in der damaligen Gesellschaft angeregt habe, so werte ich das als einen vollen Erfolg meiner Bemühungen.

 


Textbearbeitung und Bildwahl; Peter Mäder

Quellen

Hans Schumacher, “Thesen zur germanischen Frau“
Publius Cornelius Tacitus, “Germania”
Publius Cornelius Tacitus, “Annalen”
Gaius Julius Caesar, “De bello Gallico”
Dio Cassius “Historiae Romana“
Rudolf Simek, "Religion und Mythologie der Germanen"
Edda (Lieder-Edda)