Die Frühmittelalterliche Schreibkunst

Gab es im frühen Mittelalter überhaupt eine Schreibkunst? Obwohl aus dem „Dunklen Zeitalter“ oder „Dark Age“, wie die Zeitspanne zwischen Spätantike und Mittelalter genannt wird, verhältnismässig wenige Schriften vorhanden sind, so möchte ich diese Frage dennoch bejahen.

Es sind aus dieser Zeit nicht nur Gesetzestexte und Verträge überliefert, sondern auch Chroniken sowie profane und sakrale Texte. Einer der für uns wichtigen Autoren möchte ich an dieser Stelle besonders erwähnen: Gregor von Tours. Der aus dem Senatorenadel stammende Gregor wurde am 30. November 538 oder 539 in Averna, dem heutigen Clermont-Ferrand geboren. Im Jahr 573 wurde der später heilig gesprochene Gregor zum Bischof von Tours ernannt. Gregor war Kirchengeschichtler und Historiker. Sein berühmtes Werk über die Merowingerdynastie, die „Historia Francorum“ ist ein wichtiges literarisches Bindeglied  zwischen Spätantike und beginnendem Mittelalter.

Ausschnitt aus der „Historia Francorum“ des Gregor von Tours.

Bild: „Praevatio“ von Gregor von Tours, aus der digitalen Sammlung der Universität Heidelberg

 

 

 

 

 

 

 



Uns interessiert die Frage, womit die Menschen von damals schrieben und worauf schrieben sie? Die Antwort ist einfach: Sie schrieben mit Tinte auf Pergament. Aber wie stellt man Tinte und Pergament her und wie sahen Schrift und Schreibzeug aus? Diesen Fragen möchten wir im nachstehenden Artikel nachgehen, jedoch ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.

Die Eisengallustinte (Atramentum)
 

Erste Beschreibungen zur Herstellung der Eisengallustinte stammen bereits aus dem 3. Jahrhundert vor unserer Zeit von Philo von Byzanz. Über den arabischen Raum gelangte das Wissen um die Herstellung dieser Tinte nach Europa.

Eisengallustinte ist im Gegensatz zu synthetischen Tinten, wie z.B. das Anilinblau, Luft- und Lichtbeständig und daher dokumentenecht. Die Hauptbestandteile sind – wie der Name verrät ¬– Eisenoxyd, Tannine (Gerbstoffe aus Galläpfeln) und Bindemittel. Die Tinte wurde nach verschiedenen Rezepten, zum Teil unter Zugabe weiterer Bestandteile, in den klösterlichen Scriptorien hergestellt.

Eisenvitriol FeSO4 • 7 H2O, bzw. Eisen(II)sulfat kommt in der Natur als Mineral Melanterit vor. Es handelt sich dabei um ein Verwitterungsprodukt von natürlichen Pyrit- oder Markasitvorkommen (Schwefelkies).

Aus dem Muttergestein gesinterter Melanterit  oder Eisen(II)sulfat (grün).

Foto aus dem Tagbaugelände von „Brunita“ in La Union, Spanien.

 

 

 

 

Eisen(II)sulfat, oder auch Blausalz genannt, wird der Polyphenollösung zugegeben, worauf ein blauschwarzer Niederschlag entsteht. (Polyphenollösung siehe Galläpfel.)

 

 

 

 

Galläpfel entstehen durch das Gelege von 1 bis 5 mm grossen Gallwespen in dünnen Ästen und Blättern von Pflanzen.

Die Gallwespenlarven regen die Pflanze durch die Abgabe von Sekreten zur Bildung der Galläpfel an. Diese reifen in 3 bis 6 Monaten heran und bergen in ihrem hohlen Inneren die Larve.

Foto: Gemeine Eichengallwespe. Universität Hamburg, Bereich Biologie.

 
 

 

 
 

 

Für die Tintenherstellung werden die besonders gerbstoffreichen Galläpfel der Eiche verwendet. Sie enthalten über 50% Tannin (Gerbstoff), sogenannte Polyphenole.

Die Galläpfel werden im Mörser zerstossen, zunächst in Wasser eingelegt und anschliessend aufgekocht. Beim gefilterten Sud mit den gelösten Gerbstoffen handelt es sich um eine Polyphenollösung. Durch Beigabe von Eisen(II)sulfat entsteht die zunächst farblose Eisengallustinte. Erst durch Oxydation an der Luft entsteht die beinahe schwarze Tinte.

Als Bindemittel wurde seit alters her ein besonderer Pflanzengummi, der als GummiArabicum bekannt ist, verwendet. Beim Gummi Arabicum handelt es sich um den austretenden Saft (Exsudat) der Verek-Akazie und der Seyal-Akazie (Bild). Der Pflanzensaft wird getrocknet und als Granulat oder Pulver gehandelt. Gummi Arabicum ist ein natürliches Polysacharid und findet auch als Lebensmittelzusatzstoff (E414) Verwendung.

Bild links: Abbildung des Blüten- und Fruchtstandes der Senegal- oder Seyal-Akazie.

Aus Koehler 1887

 

 

 

 

 

 

 
 

 

Durch die Beigabe von Gummi Arabicum erhält die Tinte die zum Schreiben nötige Viskosität und Stabilität.

Gummi Arabicum als getrocknetes Granulat.

Gummi Arabicum löst sich gut in warmem Wasser.

 

 

 


 

„Rezepte fuer die Herstellung einer vorzueglichen Dinte“

Rezept 1

Nimm den vierten tail aines mass wasser, oder wein,
und einlot galla romana,wohl gestossen, und legs
in das wasser, und setz es zum fewer das es
siede,ain halb stundt, darnach thue ain lot
gummi arabicum wohl gestossen darein, und
ruers undereinander. Lass ain claine weil
sieden,darnach leg ein lot vitriol wohl
gestossen darein, und ruer es wohl
undereinander, und nimms war das
es nit uberlauf.

Rezept 2

1 Mass sauberes Regenwasser
9 Lot Gallaepfel grob gestossen
4 Lot Gummi Arabicum
Lass es drei Tage stehen
4 Lott Vitriol
1 halbes Lot Alaun
1 Glas Essig
1 Loeffel Salz
Ruere es wohl undereindander,
stelle es 14 Tage warm und alle Tage einmal umrueren.

Rezept 3

1 Teil Gummi Arabicum
2 Teile Vitriol
3 Teile Gallaepfel

Das erste Rezept stammt aus dem Heidelberger Codex, das zweite aus der Berner Handschrift von Chr. Rubi und letzteres nach Prof. Dr. med. P. Canneparius, Venedig um 1600.

Zunächst bedürfen die alten Massangaben einer Erklärung:
1 Lot entspricht 15,63 Gramm
1 Mass – je nach Gegend – zwischen 1,5 und 1,78 Liter

Bei der Verwendung von Wein, der in verschieden Rezepten zur Tintenherstellung vorkommt, ist zu bedenken, dass der Wein damals in Eichenfässern gekeltert wurde und daher mit Gerbstoffen angereichert war. Für eine heutige Verwendung käme daher nur ein sogenannter Barrique in Frage. Um ein Schimmeln der Tinte zu verhindern wurde die Zugabe einer Gewürznelke, oder das bestreichen des Gefässinneren mit Mastixfirnis empfohlen.

Der Gänsekiel
 

Gänsefedern waren nicht nur Namen gebend für die Schreibfedern unserer Zeit, sondern das damalige Schreibutensil schlechthin –
mit Ausnahme des Schilfrohrs.

Rohstofflieferanten für Daunenkissen, Bogenschützen und Schreiberlinge.

Als Schreibfedern wurden nur die 5 äussersten Federn der Handschwingen verwendet. Bevorzugt waren die zwischen Mai und Juni
ausgefallenen Federn, da sie gut durchwachsen und stark waren.

Foto aus der Pressemitteilung: 10 Jahre Dangelhof, 10 Jahre Freilandgeflügel

 

 

 

Als erstes wird der Kiel, bzw. die Spule von der äusseren Haut befreit um die Anhaftung der Tinte zu verbessern. Die Spule wird über glühender Kohle erwärmt und gedreht und die Haut mit dem Messerrücken abgeschabt.

Durch das Erwärmen, das auch in heissem Sand erfolgen kann, wird die Spule schön gerundet und gehärtet. Es bestand auch eine Variante, bei der die Kiele zusätzlich in heissem Alaunwasser eingeweicht und dadurch durchsichtig hell wurden (sogen. Glasspulen).



Eine vorbereitete und zwei gebrauchsfertige Schreibfedern. Das Zuschneiden der Kiele erfordert etwas Geduld und Geschick, damit daraus auch wirklich ein gebrauchsfähiges Schreibzeug wird. Für eine bessere Handhabung wurde bei den abgebildeten Federn die Fahne im unteren Teil gestutzt.

Spätantike, frühmittelalterliche Buchschrift
 

Die Unziale (Majuskel) entspricht – mit kleinen Abweichungen - ziemlich genau derSchriftform, wie sie von Gregor von Tours in seiner „Historia Francorum“ verwendet wurde. Auffallend bei Gregor von Tours ist die Verwendung unterschiedlicher Buchstabenformen, je nach dem, ob sie im Fliesstext, in Untertiteln oder in Titeln verwendet werden.



Merowingerzeitlicher Schrifttyp aus der Onlinebibliothek.
Unter der Rubrik „Alte Schriften“ sind viele interessante Beispiele zu finden. Stöbern lohnt sich!



Zum Vergleich ein Ausschnitt aus „Liber I“ der „Historia Francorum“ des Gregor von Tours.
(Digitale Sammlung der Universität Heidelberg)

Deutlich zu erkennen ist die Verwendung der unterschiedlichen Schrifttypen in Titel und Fliesstext. Um die feuchte Tinte auf dem Dokument schneller zu trocknen, bzw. überschüssige Tinte aufzusaugen, wurde in Ermangelung von Löschpapier sehr feiner Streusand verwendet.

Das Pergament
 

Die ältesten Pergamentfunde stammen aus Ägypten und werden auf 2700 v. Chr. datiert. Der Begriff „Pergament“ ist jedoch viel jünger und leitet sich von der antiken Küstenstadt Pergamon in Kleinasien (Anatolien) ab, in der es zwar nicht wie oft behauptet wird erfunden, dort aber deutlich verbessert wurde.

Modell der Stadt Pergamon, welche die zweitgrösste Bibliothek der damaligen Welt beherbergte. Angeblich wurden in ihr über 200'000 Bücher aufbewahrt. Sie wurde nur noch durch die berühmte Bibliothek in Alexandria übertroffen.

 

 

 

Wie der römische Geschichtsschreiber Plinius der Ältere berichtet, gab es zwischen den hellenistischen Königen Eumenes II. von Pergamon und Ptolemäus Epiphanes von Ägypten, im 2. Jahrhundert v. Chr. ein Prestigeduell um die grösste Bibliothek der damaligen Welt.

Damit Eumenes II. die Bibliothek von Alexandria nicht übertreffen konnte, erliess Ptolemäus Epiphanes ein Exportverbot für Papyrus, dem damals gebräuchlichen Schreibmaterial. Daraufhin wurde in Pergamon das Pergament als brauchbare und bald sogar als bessere Alternative zum Papyrus (weiter-) entwickelt.

Pergament löste letztlich den Papyrus ab, da es biegsamer, haltbarer und auch wieder verwendbar ist. Letzteres wird erreicht, indem der alte Text mit Bimsstein abgeschliffen und neu überschrieben wird. Den Vorgang nennt man Palimpsestieren.

Für die Pergamentherstellung wurden die Häute von Kalb, Ziege oder Schaf verwendet. Im Gegensatz zum Leder wird die Haut nicht gegerbt, sondern in Kalkwasser eingeweicht. In dieser Lauge lösen sich die Haarwurzeln.

An der aufgespannten Haut werden Fett- und Fleischreste, sowie die Haare abgeschabt.

Bild: Pergamentherstellung um 1568. Aus Wikipedia.

 

 

 

 

 

 

Übrigens: Laut dem lateinischen Autor Aulus Gellius, soll die Bibliothek von Alexandria - vor dem cäsarischen Brand - stolze  700'000 Rollen umfasst haben, was ungefähr 140'000 modernen Büchern entspräche. Wie viele Rollen während der alexandrinischen Kriege jedoch einem Brand zum Opfer fielen, darüber gibt es verschiedene und widersprüchliche Angaben.

Als im Jahr 642 n. Chr. Alexandria durch den Kalifen Umar Ibn al-Chattab erobert wurde, sei jener Teil der Bücher vernichtet worden, die dem Koran widersprochen hätten. Ein kleiner Teil sei zuvor jedoch gerettet und nach Konstantinopel verbracht worden, von wo einige Bücher in den Westen gelangten. Spätere christliche Eroberer hätten in Alexandria letztlich noch jene Schriften vernichtet, die der Bibel widersprachen. So sei von der einst stolzen Sammlung nichts mehr geblieben und altes Wissen für immer verloren gegangen.

Blickt man um sich, ist man geneigt dieser nicht belegten Fassung des Untergangs der grossen Bibliothek von Alexandria Glauben zu schenken. Denn noch immer sind es die Dümmsten, die unerträglich laut und frevelnd durch die Welt ziehen.



Brand der Bibliothek von Alexandria während den alexandrinischen Kriegen

 

Beitrag von Peter Mäder