Sagen mit alemannischem Hintergrund

Das Wüetisheer

Namentlich in den zwölf Nächten zwischen Weihnachts- und Dreikönigstag zieht es durch einsame Gegenden oder mitten durch Häuser, teils lärmend und schreiend, teils begleitet von Jagdrufen und Hundegebell, teils von geisterhaft lockender Musik: das Wüetisheer. Es handelt sich dabei um einen Zug armer Seelen, manchmal auch um ein einzelnes Gespenst. Im ersten Wortbestandteil steckt der germanische Gott Wuotan, was in der berndeutschen Lautung Wüetisheer noch recht deutlich zum Ausdruck kommt. In vielen andern Mundarten ist das Wort ganz undurchsichtig geworden: Varianten sind wüetigs Heer; Muetis-, Mueter- und Guetisheer; Wueti- und Muetiseel; Muetiseil; Wueti-, Mueti- und Guedisee; Wuete- und Mueltehee sowie Wüetihöö. Die Vorstellungen des Wüetisheeres sind zahlreich: In Jenins GR sind es dunkle Gestalten, die fliegen, in Oberglatt kopflose Männer, die einen Wagen begleiten, im Wägital ist es ein Sturmgeist, der auf einem Drachen reitet, und im Rheintal gleicht es einem schreienden Tier oder aber einem schreienden Haufen Pferdekot... Begegnet man dem Wüetisheer, schützt man sich am besten vor Schaden, indem man ja nichts tut, um es zu reizen!
(Schweizerisches Idiotikon, 19. Dezember 2012, CL)
 

Bild: Wotans wilde Jagd, Gemälde von Johann Wilhelm Cordes

Das Wütisheer (Quelle: Sagen aus dem Berner Oberland von Hermann Hartmann)

Vom Rotental her hört man oft zwischen Hasli und Grindelwald das Brausen der grauen Talherren oder des Wütisheers. Am ärgsten treibt es seinen Spuk um die heilige Weihnachtszeit. Mächtige Riesen, Westfriesen genannt, führen den nächtlichen Zug an, dann kommen Zwerge von scheusslicher Gestalt, reitend auf allem möglichen Ungetier und die Geister all jener Fluchbeladen, welchen die Sage das Rotental und den Rottalgletscher als Aufenthaltsort zuweist. Wenn aber der heulende Sturm das Nahen dieser wilden Jagd verkündet, müssen oben auf der Scheideck, da wo der Weg nach Gassen und zum Faulhorn führt, diesem Geisterspuk die Tore des Melkhauses geöffnet sein. Wehe dem Haus, wenn dies nicht geschieht!

  Sehe jeder zu, dass er nach Hause komme
  Gemälde von Wilhelm Roegge (1870 – 1946)
  Illustration in „Schweizer Sagen“ von Meinrad Lienert  (1865-1933)

 

 

 

 

 

Das wilde Heer (Quelle: Sagen aus dem Berner Oberland von Hermann Hartmann)

Durch die Täler und über die Höhen unseres Landes zieht in dunkeln, stürmen-den Nächten oft ein gespensterhafter Zug, das wilde Heer. Niemandem, der es ruhig seine Bahn dahinziehen lässt, tut es Leid an. Wer ihm begegnet, stellt sich zur Seite und lässt die flüchtenden Gestalten weiterziehen. Sie kehren auch oft in Stadeln, Ställen und Sennenhütten ein. Darum muss man in gewissen Nächten die Türen offen lassen.
So hörte einst ein Senn, welcher auf der Gasteren, der gewohnten Lagerstatt im Heu über dem Stall, schlief, darunter merkwürdige Stimmen, ohne den Sinn der Worte zu verstehen. Vorsichtig schlich er sich zur Futterlücke, um hinabzuschau-en. Er ahnte, das wilde Heer sei bei ihm eingekehrt. Und wirklich, das Nachtvolk war in seiner Hütte. Die absonderlichen Gestalten hatten es sich bequem ge-macht. Einige sassen um den russigen Herd, wo sie ein lohendes Feuer ange-steckt hatten, während andere Spiegel, die schönste Kuh im Stall, von ihrem Platze losbanden, sie schlachteten und brieten und vergnüglich von ihrem Fleisch schmausten. Die Frechheit wurmte den Senn im Innersten. Er sprang auf und wollte dazwischen fahren, besann sich aber noch beizeiten und blieb stumm. Da richtete einer aus der geheimnisvollen Schar sein Auge nach ihm hin und bot ihm artig einen Bissen Fleisch von seinem Eigentum an. Er schlug nicht ab und ass das Stück, ohne ein Wort zu sagen. Nach vollendeter Mahlzeit verschwand das Nachtvolk wieder, das Feuer erlosch und der Senn, noch immer gelähmt vor Furcht und Ärger, kroch auf sein Lager zurück. Des Morgens aber, als er in den Stall hinunterstieg, dem Vieh zu warten, siehe, da stand auch der geschlachtete Spiegel wieder am altgewohnten Platze und brachte dem über alle Massen Er-staunten den üblichen Morgengruss dar. Doch, oh Wunder! Am Hinterteil fehlte der Kuh ein Stücklein Fleisch und bei genauem Zusehen sagte er sich: Es ist just der Teil, welchen ich selbst in der Nacht gegessen habe. Denn, mit sich spassen lässt das Nachtvolk nicht!


Beitrag von Frowin

Quellennachweis im Text.

Hinweis


Meinrad Lienert (1865-1933) gilt als einer der Begründer der Schweizer Mundartdichtung. Seine Geschichten, Sagen und Gedichte waren über Generationen prägend und gehörten bis vor wenigen Jahrzehnten in jedes ordentliche Deutschschweizer Schulbuch.